Montag, 26. Oktober 2020

Meine Oma und das Paradoxe unserer Generation

Meine Oma hat sich nie ein Youtube Video zum Thema Brotbacken angeschaut und doch hat sie ihr Leben lang ihr Brot selbst gebacken. Das nennt man heute Handwerkskunst. 

Meine Oma hat sich nie dauerberieseln lassen durch die sozialen Medien, sondern hat zu bestimmten Uhrzeiten das Radio oder den Fernseher angemacht und ist dem lokalen Radio- und Fernehsender treu geblieben. Das nennt man heute selektiven (ausgewählten) Konsum. 

Meine Oma hat nie einen Podcast darüber gehört, wie man in zehn Schritten zu einem immer aufgeräumten Haus im Alltagstrudel kommt, und doch war ihr Haus immer gekennzeichnet von Pflege und Ordnung. Das nennt man heute kluge Haushaltsführung. 

Meine Oma hat lange bevor die Wissenschaft herausfand, dass selber kochen glücklich, gesund und reich macht, alles selbst gekocht. Sie hat nie ein Rezept im Youtube unter dem Titel "Leckerstes Bananenbrot aller Zeiten" angeguckt, und doch war ihr Essen nicht zu übertreffen. Das nennt man heute leidenschaftliches Kochen. 

Meine Oma hat nie ein 10- minütiges Hitworkout gemacht, um die Lebensqualität zu verbessern, um Kalorien zu verbrennen oder den Stoffwechsel auf Hochtouren zu bringen - und hat doch vor einem Jahr ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Das nennt man heute glückliches Altern.

Meine Oma hat Gastfreundschaft praktiziert, auch dann noch, als der Trend der Zeit immer mehr dahin ging, die Häuser zu schließen und sich mit Freunden in Restaurants zu treffen. Meine Oma hat verstanden, dass Beziehungen Zeit und eine gemütliche und persönliche Umgebung brauchen und nicht die vermeintliche lockere Idylle eines Lokals. Das nennt man heute immer noch Gastfreundschaft. 

Meine Oma wusste lange bevor Marie Kondo mit ihrem Entrümplungs- und Ordnungswahn durch Netflix bekannt wurde, dass Sachen nicht glücklich machen. In ihrem Haus gab es nichts, dass nicht einen festen Platz und einen festen Gebrauch hatten. Überfüllte Schränke gab es bei meiner Oma nicht. Marie Kondo wäre im Haus meiner Großeltern wohl arbeitslos gewesen. Das nennt man heute Funktionalität und Ordnungsliebe. 

Meine Oma hat nie eine Achtsamkeitsübung gemacht um "den Alltag bewusster zu erleben" und genießt doch jeden Tag das Leben, dass ihr geschenkt wurde. Das nennt man heute Glück im Alltag.

Meine Oma hat wenig Ausbildung und ist auch nicht von einem Seminar zum Nächsten gelaufen um ja nichts zu verpassen, und ist doch mit offenen Ohren und Augen durch die Welt gegangen um viel dazu zu lernen. Das nennt man heute gesunde Neugierde.

Meine Oma hat nie ein liebliches Paarfoto von sich und Großvater im WhatsApp Status veröffentlicht mit öffentlichen Liebeserklärungen, die eigentlich nur das Paar was angehen, und doch spürte und wusste man, dass sie ihre Ehe hochhielt und dass mein Opa der wichtigste Mensch in ihrem Leben war. Das nennt man Loyalität und treue Partnerschaft.

Meine Oma hat verstanden, dass sie als Ehefrau meinem Großvater eine Gehilfin ist. Sie wusste mit den Marotten und Eigenarten meines Großvaters am Besten umzugehen und war ihm, wie man beobachten konnte, ein passendes und ausgleichendes Gegenüber, ohne sich selbst dabei scheinbar aufgeben zu müssen. Das nennt man gelebter Glaube. 

Zu denken, die ältere Generation hätte uns heute nichts mehr zu sagen, ist wohl falsch. Mehr denn je profitieren wir von dem Vorbild der Generationen, die vor uns lagen. 

Übrigens: mit "meine Oma" bezog ich mich auf die ältere Generation im Allgemeinen, obwohl ich durchaus meine beiden noch lebenden Omas im Hinterkopf hatte. 

lr

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